INTERVIEW
Prof. Dr. Christian Schwanenberger im Gespräch mit Marcel Große
MG > CS
Gab es ein Erlebnis, das eine Art Initialzündung für Deine Forschung zu Dunkler Materie wurde?
Ehrlich gesagt, nein. Ich bin da eher so reingerutscht …
Meine erste Postdoc-Stelle verbrachte ich am HERA-Beschleuniger am DESY in Hamburg. Das war ein Beschleuniger, wo Protonen auf Elektronen bzw. Positronen geschossen wurden – ein gigantisches Mikroskop, das unser heutiges Wissen über das Innere der Protonen entscheidend geprägt hat. Ich habe mich an diesem Beschleuniger u.a. mit supersymmetrischen Theorien beschäftigt und nach sogenannten Gravitinos gesucht, die Dunkle Materie hätten erklären können.
Als ich keine Gravitinos und keine Hinweise auf Supersymmetrie fand, bin ich zum Tevatron-Beschleuniger am Fermilab in der Nähe von Chicago gewechselt. Das war bis dato der größte Materie-Antimaterie-Beschleuniger der Welt. Hier war ich vorrangig damit beschäftigt, die Eigenschaften des Top-Quarks, des schwersten heute bekannten Elementarteilchens, das an diesem Beschleuniger 1995 entdeckt wurde, so präzise wie möglich zu vermessen. In meinen ersten Jahren, nachdem ich an den größten Beschleuniger der Welt, den Large Hadron Collider (LHC) am CERN, gewechselt war, habe ich ebenfalls Präzisionsmessungen zum Top-Quark gemacht.
So haben wir beispielsweise den Eigendrehimpuls (Spin) des Top-Quarks als Erste am LHC beobachtet, der eine ganz wichtige Quanteneigenschaft des Top-Quarks darstellt. Mit der Zeit habe ich mich nun vermehrt auf die Suche nach neuer exotischer Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik konzentriert, das unser heutiges Wissen über die Welt der Elementarteilchen darstellt. Hierbei haben wir uns auf sogenannte „stealth stop“-Modelle fokussiert – also Modelle, wo sich Dunkle Materie in Form von Supersymmetrie in der Physik der Top-Quarks verstecken könnte. Unsere Messungen zum Spin des Top-Quarks waren sensitiv auf solche „stealth“-Szenarios, die wir leider nicht nachweisen konnten. Daraufhin habe ich mich dann mit Modellen auseinandergesetzt, die sogenannte Weakly Interacting Massive Particles (WIMPs) postulieren, die wiederum Dunkle Materie erklären könnten.Seither suche ich nach Dunkler Materie in Form solcher WIMP-Teilchen im Zusammenhang mit Top-Quarks und einem vorhergesagten, aber noch nicht gefundenem, schwereren Schwesternteilchen des Higgs- Bosons, welches 2012 am CERN entdeckt wurde. Momentan untersuchen wir eine superspannende Abweichung der Daten von der Vorhersage des Standardmodells, auch wieder unter Verwendung der Messungen zum Spin des Top-Quarks. Wir analysieren gerade, ob diese Abweichung tatsächlich statistisch signifikant ist und wirklich durch die Existenz eines schweren Higgs-Bosons bzw. eines WIMP-Teilchens erklärbar wäre oder eben nur eine zufällige Fluktuation ist. Das haben wir noch nicht abschließend klären können, deshalb ist es also momentan eine sehr aufregende Zeit für uns …
„Ich bin davon überzeugt, dass die Kunst Bilder in unser Bewusstsein einpflanzt, die uns dann etwa im kreativen Prozess der Entwicklung neuer Theorien oder Messmethoden bewusst oder unbewusst beeinflussen.“
– Prof. Dr. Christian Schwanenberber
MG > CS
Wie kann man etwas finden, wenn man noch nicht genau weiß, wonach man sucht, und wie kann man sich sicher sein, dass, wenn man es gefunden hat, es auch das ist, wonach man gesucht hat?
Genau das ist das Problem bei der Suche nach Dunkler Materie! Man
weiß, dass es sie gibt, hat aber keine Ahnung, was sie sein könnte! Es
könnte ein neues Teilchen sein, wie etwa das in der vorigen Frage erwähnte
WIMP-Teilchen, es könnte aber auch ein Problem der Allgemeinen
Relativitätstheorie sein, wonach es allerdings nicht aussieht, oder
was auch immer … Wenn man überhaupt nicht weiß, wonach man denn
genau sucht, bleibt einem nur, Theorien zu entwickeln, die die Existenz
Dunkler Materie erklären könnten. Damit kann man dann Voraussagen
machen, was man denn messen müsste, um feststellen zu können, dass
sich die Natur tatsächlich so verhält, wie von dieser neuen Theorie vorhergesagt.
Wie erwähnt nehme ich in meiner Forschung an, dass Dunkle
Materie neue Teilchen (WIMPs) sind und dass sie schwer genug sind,
um das Phänomen der Dunklen Materie im Kosmos zu erklären. Wie
der Name der WIMPs schon sagt, können diese Teilchen aber nur ganz
schwach mit der Materie, die wir kennen, wechselwirken, ansonsten
hätten wir sie schon einmal in einem Detektor nachweisen müssen. Wir
nehmen nun zusätzlich an, dass die Wechselwirkung mit der Materie, die
wir kennen, durch ein Teilchen mit ähnlichen Eigenschaften wie das bekannte
Higgs-Boson vermittelt wird. Dieses „neue“ Higgs-Boson müsste
aber viel schwerer sein, ansonsten hätten wir es schon früher gefunden.
Das ist natürlich eine reine Spekulation. Einerseits gibt es keinen Grund,
warum in der Natur nur ein Higgs-Boson vorkommen sollte. Andererseits
gibt es aber auch keinen tieferen Grund, warum es zwingend mehr als
eins geben müsste. Also einmal angenommen es gäbe zusätzlich zum
bekannten Higgs-Boson ein solches schwereres exotisches Higgs-Boson,
dann würde die Annahme nahe liegen, dass es ganz ähnlich mit der
Materie wechselwirkt wie das Higgs-Boson, das wir vom Standardmodell
her kennen. In diesem Fall hätte es die stärkste Wechselwirkung mit dem
schwersten Elementarteilchen, nämlich dem Top-Quark. Wenn nun all
diese Hypothesen genau so erfüllt wären, dann könnten wir Dunkle-
Materie-Teilchen in Form von WIMPs am LHC finden, und zwar im Zusammenhang
mit der Produktion von Top-Quarks und schweren Higgs-
Bosonen. Und genau danach suchen wir momentan am LHC.
Es ist also ein bisschen wie Lotto spielen: Man setzt auf gewisse Zahlen
(Hypothesen in unserem Fall) und hofft, dass diese Zahlen auch gezogen
werden (wir also Dunkle Materie in unseren Daten, die wir auf die Hypothesen
hin analysieren, finden). Wenn man jetzt tatsächlich eine Abweichung
von den Vorhersagen des Standardmodells finden würde, würde
die Arbeit erst richtig beginnen. Man müsste dann nämlich beweisen,
dass diese Abweichung auch wirklich durch ein neues Teilchen hervorgerufen
wird und dass dieses die gestellten Hypothesen auch tatsächlich
erfüllt. Dazu würde man Präzisionsmessungen der Eigenschaften des
neuen Teilchens vornehmen. Zum Beispiel könnte es sich in der zuvor
erwähnten Messung des Spins des Top-Quarks zeigen. Die Richtung des
Spins würde sich nämlich ändern, wenn das Top-Quark ein schweres
Higgs-Boson abstrahlen würde, das wiederum in WIMP-(Dunkle Materie)-
Teilchen zerfiele. Diese Beobachtung würde dann wiederum Rückschlüsse
auf die Eigenschaften des neuen Teilchens erlauben. Auf diese Art und
Weise könnte man ganz viele unterschiedliche Präzisionsmessungen der
Eigenschaften der Teilchenreaktion ausführen und miteinander kombinieren,
um so die Natur des neuen Teilchens zu verstehen und zu kontrollieren,
ob sich das mit den gestellten Erwartungen deckt. Um die Sensitivität
der Analyse auf eine mögliche Entdeckung zu maximieren, verwendet
man am besten sogenanntes „Maschinelles Lernen“, also eine Methode,
die sich Künstlicher Intelligenz bedient.
MG > CS
Was hat sich in den letzten Jahren in deiner Forschungsfrage geändert?
1995 hatte man wie erwähnt das Top-Quark am Proton-Antiproton-
Beschleuniger Tevatron am Fermilab entdeckt. Es war eine komplette
Überraschung, dass dieses Elementarteilchen, das – auch nach heutigem
Wissen – aus keinen weiteren Teilchen besteht und quasi als punktförmig
angesehen werden kann, so schwer ist wie z. B. ein Goldatomkern. Der
aber besteht aus 79 Protonen und 118 Neutronen, die wiederum aus unzähligen
anderen Elementarteilchen, wie Quarks und Gluonen, bestehen.
Wie kann es sein, dass ein elementares punktförmiges Teilchen wie das
Top-Quark so schwer ist wie ein solch „fetter Materieklumpen“ wie der
Goldatomkern? Das ist eine sehr krasse Eigenschaft des Top-Quarks!
Als ich vor 17 Jahren ans Fermilab ging, war meine zentrale Forschungsfrage
noch, ob das Top-Quark wirklich das im Standardmodell
vorhergesagte Quark war oder doch irgendwie anders. Da sich jedoch
bislang keine Abweichung zwischen Messung und Erwartung gezeigt hat,
bleibt das Top-Quark aufgrund seiner großen Masse, aber auch wegen
seiner sehr starken Kopplung an das inzwischen entdeckte Higgs-Boson,
ein Mysterium. Und daher stellt sich nun die Frage, ob das Top-Quark
nicht doch vielleicht irgendwie mit neuer Physik zusammenhängen könnte
und das wiederum seine verrückten Eigenschaften erklären würde.
Deshalb hat sich inzwischen meine zentrale Forschungsfrage dahingehend
geändert, dass ich nun nach neuer Physik, wie etwa Dunkle-Materie-
Teilchen, suche, die irgendwie in Verbindung zu Top-Quarks stehen. Ich
hoffe also, dass das Top-Quark das Fenster zu neuen Entdeckungen sein
könnte und forsche mit meiner Arbeitsgruppe fieberhaft daran.
MG > CS
Kann man aufgrund der Verzerrung des Lichtes Aussagen über die Form von Dunkler Materie machen?
Dunkle Materie wird so genannt, weil sie „dunkel“ ist, also unsichtbar,
und nicht etwa Licht abstrahlt, und weil sie Materie ist, also schwer. Nach
der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein krümmen schwere
Objekte aufgrund der Gravitation den Raum. Das führt unter anderem
dazu, dass Licht im durch Dunkle Materie gekrümmten Raum nicht mehr
geradlinig fliegt, sondern gebogen entlang der Raumkrümmung. Dunkle
Materie ergibt also einen Effekt, der so wirkt, als würde man eine Linse
vor den Sternenhimmel halten, die das Licht bricht. Man nennt ihn daher
Gravitationslinseneffekt. Dieses Phänomen lässt sich tatsächlich im
Universum beobachten, z. B. durch Fotografien des Hubble-Space-
Teleskops.
Je nachdem wie die Dunkle Materie jetzt im Raum verteilt ist, wird der
Raum natürlich anders gekrümmt. Hat man einen Ort im Universum, wo
die Dunkle Materie sphärisch verteilt ist, wird die Raumkrümmung anders
sein, als wenn sie beispielsweise als langgestreckter zigarrenförmiger
Ellipsoid vorkommt. Dadurch sollten auch die Lichtstrahlen anders im
Raum verlaufen. In diesem Sinne würde ich sagen, ja, das Licht würde anders
verzerrt – also die Lichtstrahlen anders gekrümmt – werden, wenn
die Verteilung der Dunklen Materie eine andere Form hat. Man kann also
gewissermaßen eine Aussage über die Verteilung der Dunklen Materie
dark matter im Raum machen. Da man aber wie oben erwähnt nach momentanem
Wissensstand überhaupt nicht weiß, was Dunkle Materie eigentlich ist,
kann man über ihre „Form“ nur spekulieren.
Obwohl Dunkle Materie 85% der gesamten Materie im Universum
ausmacht, bleibt sie also ein komplettes Mysterium!
MG > CS
Welchen Stellenwert hat der Prozess in Deiner Arbeit?
Unter dem „Prozess“ würde ich die Analysetätigkeit verstehen, um ein
wissenschaftliches Ergebnis zu erzielen. Hierzu müssen die experimentellen
Daten, die man von den Kollisionen im Detektor digital aufgenommen
hat, kalibriert, selektiert und auf gewisse Hypothesen hin analysiert
werden, bevor man ein wissenschaftliches Resultat erhalten kann.
Dies könnte beispielsweise eine Antwort auf die Frage sein, ob und mit
welcher statistischen Signifikanz es möglicherweise Hinweise auf Dunkle
Materie in einer gewissen Teilchenreaktion in den experimentellen Daten
gibt oder alternativ mit welcher statistischen Sicherheit sich die Anwesenheit
Dunkler Materie ausschließen lässt. Beide Ergebnisse sind gewissermaßen
gleich wichtig und publikationswürdig – entweder bekommt
man ein erstes Anzeichen für eine Entdeckung oder man bekommt die
Information, dass hier nichts ist und man besser woanders suchen soll.
In diesem Sinne ist der Anspruch an den Prozess lediglich, dass er richtig
im Rahmen der Messgenauigkeit ist. Was bleibt, ist das Resultat als
quasi „einzig Relevantes“ – der Prozess wird nur dokumentiert als Nachweis
dafür, dass das Ergebnis glaubwürdig ist. Ob aber beispielsweise die
Teilchen-Kollisionen in einer Blasenkammer stattfinden, fotografiert und
die Bilder dann von Studierenden durchgeschaut werden so wie in den
1960er und 70er Jahren oder ob die Kollisionen digital mit einer Datenrate
von einem Petabyte (=1 Billiarde Bytes) pro Sekunde anfallen wie
heutzutage am LHC, spielt dabei für das eigentliche wissenschaftliche
Resultat, wie etwa die Entdeckung eines neuen Teilchens, keine Rolle. Der
Prozess wird nur exakt beschrieben, damit andere Wissenschaftler*innen
die Möglichkeit haben, das Ergebnis nachzuvollziehen und zu verifizieren.
Diese Reproduzierbarkeit der Messungen durch unabhängige Forschergruppen
ist aber ein ganz wichtiges Element in unserem Metier und auch
der Grund dafür, dass es am LHC zwei Experimente gibt, das ATLAS- und
das CMS-Experiment, die die Proton-Proton-Kollisionen unabhängig voneinander
untersuchen. Nur so kann man sicherstellen, dass die neuen
Erkenntnisse, die aus dem Vergleich der experimentellen Resultate mit
den theoretischen Vorhersagen gewonnen werden, die Natur auch richtig
reflektieren. Diese unabhängige Verifikation der experimentellen Resultate
stellt das Fundament zum Erkenntnisgewinn in der modernen Naturwissenschaft
dar. Eine andere Art von Prozess ist der Prozess des Erkenntnisgewinns
insgesamt. Und der spielt natürlich auch in der Naturwissenschaft eine
große Rolle. Weit bevor man das Higgs-Boson entdeckt hatte, wusste
man beispielsweise – unter der Annahme, dass das Standardmodell
der Teilchenphysik richtig wäre – wie schwer es ungefähr sein müsse.
Deshalb baute man den LHC genau so, wie er heute ist, weil man wusste,
dass man so entweder das Higgs-Boson entdecken würde, nämlich wenn
das Standardmodell richtig wäre, oder, wenn man das Higgs-Boson nicht
finden würde, man das Standardmodell als Theorie verwerfen müsse.
Letzteres wäre vielleicht sogar die spannendere Version gewesen!
Schließlich hat sich aber das Standardmodell als richtig erwiesen und
wir fanden das Higgs-Boson 2012 am LHC und können heute viele tolle
Messung mit diesem „neuen“ Teilchen machen …
MG > CS
Mit welchen Themen beschäftigst du dich neben Deiner eigenen Forschung am liebsten?
Seit der Ausstellung „Art Meets Science – Dark Matter“ am Teilchenlabor
DESY, die ich ja unter anderem mit Dir als Kurator (neben Tanja
Hehmann und Jana Schumacher) organisierte, habe ich einen ganz
neuen Einblick in die Kunstwelt bekommen und viele neue faszinierende
Arbeiten gesehen, die ich davor nicht kannte und die mein Leben wirklich
bereichert haben. Insofern begeistert mich das Thema des Austauschs
zwischen Kunst und Wissenschaft besonders: Worin liegen die Ähnlichkeiten
und wo die Unterschiede, sowohl in den Denkprozessen als auch
in den Vorgehensweisen? Wie unterscheidet sich die Bedeutung von Reproduzierbarkeit
bei Kunst und Wissenschaft? Wie definiert man jeweils
das Scheitern? Wie können Kunst und Wissenschaft miteinander kommunizieren?
Was können die nur scheinbar so unterschiedlichen Disziplinen
voneinander lernen? All diese Themen interessieren mich auch weiterhin.
Umso schöner war es zu sehen, wie die Kunst während unserer Ausstellung
auch Teil der Forschung bei DESY wurde.
Ein anderer Bereich, mit dem ich mich sehr gerne beschäftige, ist die
Philosophie, insbesondere die Philosophie der Naturwissenschaften. Insbesondere
begeistert mich, wie Wissenschaftler, behaftet in der Denkweise
und der Philosophie ihrer Zeit, fähig waren, sich daraus zu lösen und
revolutionierende Abstraktionen zu leisten. Dabei beschritten sie komplett
neue Wege und kamen so zu ihren Entdeckungen. Galileo Galileis Beschreibung
der Bewegung von Körpern ist so ein faszinierendes Beispiel.
Zu Zeiten Galileis war das gängige Modell, basierend auf Aristoteles, dass
die ausgezeichnete Bewegung eines Körpers die der Ruhe ist. So strebt
jeder Körper der Ruhe zu, wenn er nicht aufgrund einer Kraft in Bewegung
gehalten wird. Dieses Modell funktioniert in unserem täglichen Leben nahezu
perfekt. Der Ball rollt nicht ewig, sondern kommt immer irgendwann
zur Ruhe. Galilei dagegen behauptete, es sei gerade andersrum – und er
kannte die Filmaufnahmen vom Weltraum noch nicht, wie wir heute! Alle
Körper würden seiner Hypothese nach ihren Bewegungszustand beibehalten,
es sei denn eine Kraft wirke auf sie. Konsequenterweise müsste
also ein Ball unendlich lange weiterrollen und von alleine nie zur Ruhe
kommen. Auf den ersten Blick widerspricht dieses Modell jeder Beobachtung.
Trotzdem hatte Galilei Recht, da die Reibungskraft ja bremsend auf
den Ball wirkt, wie wir heute wissen. Galileis Theorie war ein Meilenstein
in der Physik, da nur so die Fallgesetze und auch die Keplerschen Planetenbahnen
verstanden werden konnten. Mit dieser genialen Idee, die
eigentlich allen täglichen Erfahrungen widersprach, aber trotzdem in einer
Vielzahl von Experimenten bestätigt werden konnte, legte Galilei schließlich
die Grundlage zur Newtonschen Mechanik.
Insbesondere begeistert mich dabei der Perspektivwechsel, wie man
etwa Entdeckungen und Entwicklungen anders verstehen und wertschätzen
kann, wenn man den Blick in das Denken einer anderen Zeit wagt.
Deshalb ist für mich auch die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft
und Kunst so spannend, weil es das Hineinversetzen in die andersartige
Sichtweise der Kunst erzwingt.
MG > CS
Was hältst Du denn davon, wenn Künstler*innen wissenschaftliche Themen interpretieren?
Ich finde das extrem spannend! Ich bin jedenfalls überzeugt davon,
dass die zwei Felder sehr voneinander profitieren können. Einen lebhaften
Austausch zwischen Kunst und Wissenschaft erachte ich als unerlässlich,
da beide Felder wichtige Teile der menschlichen Kultur sind.
So ist es sehr beeindruckend und wirklich atemberaubend zu sehen,
wie Künstlerinnen wissenschaftliche Forschungsergebnisse von einem
anderen Blickwinkel aus betrachten und neu interpretieren. Bei Deinem
Raketenauto-Kollisionsexperiment (Beschleuniger) bei der Dark-Matter-
Ausstellung beispielsweise konnten die Zuschauerinnen selbst anhand
der „Kollisionsdaten“ erforschen, was eigentlich passiert war, nämlich
dass eines der zwei Raketenautos nicht gezündet hatte und demzufolge
die Farbspritzer der mit Farbe gefüllten und in der Kollision zerplatzten
Eier ganz besondere Spuren hinterließen. Ähnlich wie in Deinem Kunstwerk
verhält es sich bei den Kollisionen am LHC, wo ganz viele Teilchen
beim „Zerplatzen“ der Protonen entstehen und ähnlich wie Kondensstreifen
eines Flugzeugs im Himmel Spuren im Detektor hinterlassen. Von
diesen Kollisionen werden dann digital Bilder erzeugt, ähnlich wie du bei
Deinen Kollisions-Experimenten Abzüge von den Farbspritzern anfertigst.
Diese Bilder am LHC werden dann auf Besonderheiten in den Kollisionen
durchsucht, genauso wie Deine Bilder Rückschlüsse auf den Verlauf Deines
Versuchs erlauben. So kann man auf eine künstlerisch-spielerische
Art und Weise verstehen, wie in der Hochenergiephysik neue Erkenntnisse
gewonnen werden.
Andererseits profitiert natürlich auch die Naturwissenschaft von der
Kunst. Ich bin davon überzeugt, dass die Kunst Bilder in unser Bewusstsein
einpflanzt, die uns dann etwa im kreativen Prozess der Entwicklung
neuer Theorien oder Messmethoden bewusst oder unbewusst beeinflussen.
So hat sich beispielsweise die Kunst viel mit Symmetrie beschäftigt,
wie etwa Leonardo da Vinci in seiner Zeichnung des Vitruvianischen Menschen.
Symmetrie ist jedoch auch eine ganz entscheidende Eigenschaft
für die Theorien der Physik. Letztlich ist der Vitruvianische Mensch aber
nicht ganz symmetrisch gezeichnet – beispielsweise ist die Ausrichtung
seiner Füße unsymmetrisch. Der britische Physiker Peter Higgs wiederum
hat das Higgs-Boson dadurch vorhergesagt, dass er die Symmetrie in der
entsprechenden Quantenfeldtheorie gebrochen hatte. Deshalb ist es unheimlich
spannend zu mutmaßen, ob Peter Higgs, während er an seinem
neuen theoretischen Modell arbeitete, die Symmetrie brach und dadurch
das nach ihm benannte neue Teilchen vorhersagen konnte, nicht vielleicht
auch Bilder von Symmetrie und deren Brechung aus der Kunst im Unterbewusstsein
in sich trug …
MG > CS
Was hältst Du von der These, dass allein, wenn man sich etwas vorstellen kann, es bereits existiert?
In der Philosophie ist das natürlich eine unheimlich wichtige These,
die über die Jahrhunderte viel diskutiert wurde, unter anderem von René
Descartes, der ja auch ein exzellenter Naturwissenschaftler und Mathematiker
war, mit seinem Diktum „Ich denke, also bin ich“. Als moderne
Naturwissenschaftler*innen arbeiten wir allerdings seit der Zeit von
Galilei anders, und das ist auch sinnvoll.
Descartes schuf durch logische Vernunft ein System, mit dem er vermeinte,
für jede Naturerscheinung eine Erklärung finden zu können. Das
war ein großer Fortschritt, da man zu seiner Zeit üblicherweise die Offenbarung
des Johannes in der Bibel zur Erklärung von Naturphänomenen
heranzog. Im Unterschied zu Descartes ist aber in der modernen Naturwissenschaft
seit Galilei jedwede Hypothese nur dann von Wert, wenn sie
auch im Experiment nachweisbar ist, unabhängig davon, ob sie logisch
einleuchtend ist oder nicht. Isaac Newton etwa sagte: „Ich lege keinen
Wert auf Mutmaßungen.“ Eine Erkenntnis, dass etwas existiert und wie es
existiert, kann also nur gewonnen werden, wenn diese Erkenntnisse in experimentellen
Daten nachgewiesen werden können und diese Messungen
reproduzierbar sind. Es war dabei ein absolut nichttrivialer Schritt, quasi
axiomatisch zu akzeptieren, dass man in Experimenten, also von Menschen
„künstlich“ geschaffenen Situationen, etwas über die Natur und ihre
Gesetzmäßigkeiten lernen kann. Aber dieses Konzept hat sich über die
Jahrhunderte als sehr erfolgreich erwiesen.
Insofern muss ich, als Naturwissenschaftler sprechend, die These ablehnen,
dass etwas schon dadurch existiert, dass man es sich vorstellen
kann. Ohne experimentellen Nachweis kann ich keine sinnvolle Aussage
über die Existenz von Dingen – auch nicht von Dunkler Materie übrigens –
machen. Meine eigene Vorstellung ist dabei irrelevant.
CS > MG
Wie bist Du dazu gekommen, experimentelle Kunst zu machen?
Ich glaube, der Ausgangspunkt für die experimentellen Arbeiten liegt –
wie so vieles, das einen prägt – weit zurück, irgendwo in der Kindheit. Du
wirst in diese Welt geboren, fängst an, diese mit deinen Sinnen wahrzunehmen.
Die Neugier und das Spiel treiben dich immer weiter dazu an, ins
Unbekannte vorzudringen. Vielleicht ist das auch eine Art Naturgesetz.
Eine der ersten Naturbeobachtungen, bei der ich mit Hilfe von Seifenblasen
Luftströmungen untersucht habe, ist aus heutiger Sicht nicht
unbedingt ein Experiment und doch übt es auf mich bis heute eine ungebrochene
Faszination aus. Obwohl ich selbst künstlerisch noch nie mit
Seifenblasen experimentiert habe, bin ich froh über jede Position, die das
bisher getan hat. Vielleicht hat es auch Jahrzehnte später dazu geführt,
dass ich die Arbeit Windmaschine erstellt habe. Oft sind es die scheinbar
einfachen Dinge wie Seifenblasen, Wind, Strömungen oder die Dynamik
von Windrädern, in denen für mich eine besondere (Anziehungs-)Kraft
liegt. Ich glaube, es geht in gewisser Weise darum, etwas Immaterielles in
eine greifbare Form zu bringen. Es zu halten, zu drehen, um es genau aus
unterschiedlichen Perspektiven betrachten und sich darin vertiefen zu können.
Vielleicht war das einer der Momente, die mich dazu gebracht haben,
experimentell zu arbeiten.
„Ich glaube, es geht in gewisser Weise darum, etwas Immaterielles in eine greifbare Form zu bringen.“
– Marcel Große
Eine ganze Reihe von Installationen und Objekten entstand auf jeden
Fall aus einer zufälligen Begegnung mit einem Physiker auf dem Gelände
der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg: Es war ein spätherbstlicher
Sonntagnachmittag und er war gerade dabei, seinen Spind
zu räumen. Wir kamen ins Gespräch und kurz darauf standen wir vor
einer Apparatur, die einen riesigen, unterirdischen Raum ausfüllte. Eine
massive Konstruktion aus Stahltanks, Aluminiumprofilen und -folien,
Plexiglas, Betonblöcken, etlichen Kabeln und Rohren, beleuchtet von
Neonlicht. Dieser Tandembeschleuniger, erklärte er mir, werde zur C14-
Datierung verwendet … Zwei Stunden später standen wir am Ende der
Untersuchung. Ich stellte ihm eine Frage, die als Witz gemeint war, um
die nun entstandene Stille zu durchbrechen. Er dachte aber zu meiner
Verwunderung darüber nach.
CS > MG
Was sind Deiner Meinung nach Ähnlichkeiten zwischen experimenteller
Kunst und Wissenschaft? Wo liegen die Unterschiede?
In ihrem Wesen sind Wissenschaft und Kunst für mich nicht voneinander
zu trennen. Es ist die Art der Sichtweise auf das jeweilige Untersuchungsobjekt,
die die beiden eint. Es geht in erster Linie nämlich nicht um
den Untersuchenden selbst, sondern um den Gegenstand seiner Untersuchung.
Im Zusammenspiel der verfügbaren Erkenntnisse und eines neuen
Gedankens entsteht durch die Modulation des Wissens ein neues Objekt.
Wichtig ist dabei die Vielzahl der Perspektiven, die man sowohl in der
Kunst als auch in der Wissenschaft eingenommen hat, um das Ganze
zu fassen. Durch die Veröffentlichung der bisherigen Ergebnisse dieses
Prozesses kann sich, je nach Gegenstand und der eingesetzten Leistung,
ein neuer Aspekt in der eigenen Disziplin durchsetzen.
CS > MG
Was können Kunst und Wissenschaft voneinander lernen bzw.
wie können sie voneinander profitieren?
Im Laufe der Zeit haben sich beide Disziplinen immer weiter mit sich
selbst beschäftigt und somit auch ihre eigenen Sprachen vertieft. Das
passiert zwangsläufig von allein und ist wertfrei zu betrachten. Dennoch
ist es oft mit viel Aufwand verbunden, zwischen diesen Disziplinen und
der Gesellschaft zu kommunizieren, ihre Sprachen zu übersetzen. Andere
Gruppen zu erreichen, um ein Verständnis dafür zu schaffen, mit welchen
Themen man sich auseinandersetzt, ist jedoch die Grundlage für eine
gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Entwicklung. Das „Dark
Matter“-Projekt am Deutschen Elektronen-Synchrotron (kurz DESY) hat
mir eindrucksvoll gezeigt, dass es ein überdurchschnittliches Interesse
für einen Austausch zwischen den unterschiedlichen Disziplinen gibt.
Dabei war es wichtig, dass die Positionen von Kunst und Wissenschaft
gleichwertig nebeneinander existieren. Der Mehrwert, den man nicht beziffern
kann, entsteht durch die Kommunikation, den Austausch und die
Überschneidung der beiden Disziplinen. Diese Form der Überschneidung
verändert die jeweils eigene Perspektive und bringt idealerweise neue
Gedanken hervor. Aus meiner Sicht ist dies immer die Quelle für Innovation.
Denn bevor etwas Realität werden kann, muss es zuerst denkbar sein.
CS > MG
Hast Du eine Theorie oder ein etwas konkreteres Modell, dem Du nachspürst?
Ja, ich arbeite mit und nach dem Modell der Energieerhaltung, denn
eine Energie kann nicht durch nichts entstehen und nicht in nichts übergehen.
Alles ist mit allem verbunden; Energie ist in ständiger Veränderung.
Es gibt keinen endgültigen Zustand, keinen Endpunkt. Energie fließt
kontinuierlich im geschlossenen System, mal langsam, mal turbulent.
Transformation findet anhaltend statt. Alles unterliegt dem Prozess aus
Werden und Vergehen. In meiner Arbeit liegt der Ausgangspunkt meiner
Herangehensweise zunächst in der eigenen Auseinandersetzung mit der
um uns liegenden Welt. Denn wie auch im Energieerhaltungssatz kann
Energie eben nicht aus nichts entstehen. Immer hat der Ort, das Thema,
die Geschichte bereits eine eigene Kraft und ich versuche diese zu
verbildlichen und zu potenzieren. Wenn das gelingt und die Energie auf
den Betrachter einwirkt, so verändert diese auch ein Stück weit dessen
Lebenswirklichkeit und im besten Fall kann die aufgewendete Energie
weiterfliegen.
CS > MG
Wie definierst Du Erfolg in Deinen Experimenten – und wie das Scheitern?
In den Experimenten kann es eigentlich kein Scheitern geben. Die Frage
ist nur, ob du schon aufhörst zu suchen, wenn sich nicht gleich ein Ergebnis
einstellt. Auch, ob du das erreichte Ergebnis für dich akzeptieren
kannst oder es zum Anlass nimmst, an dieser Stelle weiterzuarbeiten. Ein
Erfolg ist es, wenn aus dem Experiment etwas vollkommen anderes
entsteht als das, was du erwartet hast.
CS > MG
In der Naturwissenschaft versucht man, Experimente zu machen, um die Naturgesetze zu erforschen. Was möchtest Du durch Deine experimentelle Kunst erforschen? Gibt es so etwas wie „alternative Naturgesetze“, die Du in dem speziellen Kosmos Deiner Kunst erforschen möchtest, oder möchtest Du die gleichen Naturgesetze, mit denen die Naturwissenschaft arbeitet, künstlerisch erforschen?
Wir alle unterliegen den Naturgesetzen und auch in meinen Experimenten
spiegeln sich diese wieder. Die faszinierendsten Grundlagen für
ein Verständnis unserer Welt werden mit einfachen Begriffen wie Körper,
Raum, Licht, Gravitation und Zeit beschrieben. Wenn man jeden einzelnen
Begriff genauer untersucht, wird das Ganze allerdings schnell sehr komplex.
Ähnlich wie bei wissenschaftlichen Versuchsaufbauten versuche
ich, das Geistige mit dem Körperlichen zu verbinden – Theorie und Praxis
eben. Ich glaube, dass ich durch die Arbeiten an einen Punkt gelangt bin,
der für mich Erkenntnis beinhaltet. Auch wenn ich noch lange nicht dort
angekommen bin, wo es mich hinzieht.
CS > MG
Worum geht es Dir in Deinen Experimenten? Möchtest du Resultate und
Ergebnisse produzieren, oder geht es eher darum, den Prozess des Erforschen selbst künstlerisch zu beleuchten?
Mich interessieren die Möglichkeiten der Veränderung, die sich innerhalb
eines scheinbar festen Rahmens im Laufe des Prozesses ergeben.
Das Ergebnis ist dabei ein wichtiger Bestandteil dieses Verlaufs und auch
vorläufiger Endpunkt. Ich habe natürlich eine Theorie, wie das Ergebnis
aussehen könnte, aber es geht mir nicht so sehr darum meine Theorie zu
bestätigen, als darum, die Bedingungen zu ergründen, aus denen heraus
das Ergebnis entsteht. Mich interessiert die Ergebnisoffenheit meiner Versuchsanordnung
und ich finde es spannend zu sehen, wie sich der Prozess abbilden lässt.
Ich staune eher darüber, was dann wirklich passiert
und rekapituliere im Anschluss an das durchgeführte Experiment. Dann
begebe mich auf Spurensuche: In der Analyse des entstandenen Bildes
lässt sich der Ablauf sozusagen entgegen der Zeitrichtung zurückverfolgen.
Diese Rekonstruktion des experimentellen Prozesses hilft mir zu
verstehen, was sich da eigentlich abgespielt hat. Mit unserer Wahrnehmung
können wir nur begrenzt Informationen aufnehmen und es ist sehr
interessant zu sehen, wie viel uns eigentlich entgangen ist, obwohl man
physisch und konzentriert beim Ablauf dabei war. Manchmal entsteht
beim Betrachter dabei auch der Eindruck, mit dem Aufbau gescheitert zu
sein, wenn das Ergebnis sich nicht mit der eigenen Theorie deckt. Aber
mir zeigt das stattdessen, wie groß der Spielraum ist, der sich aus den
Möglichkeiten eröffnet. Und das macht die experimentelle Kunst für mich
so spannend.
CS > MG
Wenn Du Dir etwas wünschen könntest – gäbe es ein Experiment, das
Du am liebsten machen würdest und ein bestimmtes Resultat, das Du
erhoffen würdest?
Ich würde mir wünschen, zu weiteren interdisziplinären Projekten eingeladen
zu werden, um noch unbekannte Experimente und Forschungsstationen
künstlerisch zu begleiten. Denn es gibt viel zu sehen, zu übersetzen.
Ich würde mich freuen, als Vermittler zwischen den unterschiedlichen
Gebieten einen neuen Raum für Kommunikation zu eröffnen. Die eigene
Perspektive zu erweitern und die Möglichkeit mit Menschen anderer
Fachgebiete im Austausch zu sein. Das nächste kunst-wissenschaftliche
Projekt ist schon erdacht und es geht hoffentlich bald in die Umsetzungsphase.
Bei diesem Projekt wird es um Werte, globale Zusammenhänge,
klimatische Veränderungen und Rechenmodelle gehen. Der Arbeitstitel ist
„reductio adamantem“.
CS > MG
Gibt es ein konkretes Ziel, das Du in Deiner Kunst verfolgst?
Im Laufe der Jahre habe ich schon die unterschiedlichsten Stadien
durchlaufen und wenn ich überlege, dass ich ganz klassisch einmal mit
Zeichnungen begonnen habe, so kann ich mir heute kaum noch vorstellen,
in diesem Umfang wieder daran anzuknüpfen. Zwar bleibt es
Bestandteil meiner Arbeit, aber es ging mir damals mehr um die technische
Umsetzung von geometrischen Formen in dreidimensionale Körper.
Das Verhältnis von Fläche, Körper, Volumen und deren mathematische
Grundlagen gaben mir die Möglichkeit, die Konstruktion durchzudenken,
ohne sie dreidimensional umzusetzen zu müssen. Später war mir der
Ablauf von technischen Prozessen und Zusammenhängen wichtiger und
in der Ausbildung zum Karosserie- und Fahrzeugbauer habe ich mich vor
allem in der Instandsetzung mit dem Verhältnis von Ursache und Wirkung
beschäftigt: Die Rekonstruktion von Flächen und Formen unter Berücksichtigung
des Materials und ihrer Wiederherstellung entgegen der aufgetretenen
Kraft. Die Faszination für das nicht Greifbare und Unbekannte
hat mich möglicherweise dann auch zum Studium an der Akademie der
bildenden Künste in Nürnberg gebracht, in dem ich einen nie zuvor erreichten
Freiraum erfahren habe. Hier waren die Möglichkeiten, Interpretationen
und Sichtweisen nach meinem Empfinden erst einmal wichtiger
als ein fertiges Produkt. Wenn ich also nach einem konkreten Ziel gefragt
werde, dann würde ich mir wünschen, auch in Zukunft frei und ohne
Zwang mich mit den Themen beschäftigen zu können, die in meinen
Augen eine gesellschaftliche Relevanz besitzen.
CS > MG
Wie gehst Du vor, wenn Du wissenschaftliche Themen interpretierst?
In der Auseinandersetzung mit mir noch unbekannten Räumen oder
Themenfeldern versuche ich mir zunächst möglichst viele Informationen
anzueignen und alles gleichwertig nebeneinander zu betrachten. Durch
das erweiterte Spektrum ist die Richtung völlig offen; ähnlich wie zu
Beginn einer meiner Collagen arbeite ich mit Fragmenten, die zunächst
keine Verbindung miteinander haben. Dann fange ich an, zwischen den
Einzelteilen formale Bezüge herzustellen und in der Überlagerung eine
Verbindung oder eine Stimmung zu erzeugen. Dabei sind die Parameter
nie fest oder endgültig. Auch in den dreidimensionalen Werken kommen
immer wieder Elemente vor, die aus einem anderen Kontext stammen
oder wiederum in neue Arbeiten einfließen werden. Die Abgrenzung
zwischen klassischem Werk, einzelnem Objekt oder ortsbezogener
Installation verschwimmen. So haben Installationen zugeordnete Titel
und dennoch stehen einzelne Werkgruppen mit Untertitel wieder für sich.
Es ist spannend zu sehen, wie die Elemente dabei untereinander einen
Dialog eingehen, je nachdem, wie weit man den Raum, den Kontext oder
die zeitliche Dimension denkt, in denen sie stehen. Wichtig ist mir immer
auch die wechselseitige Kommunikation zwischen der Arbeit und dem
Rezipienten. Welche Interpretationen dabei entstehen, ist natürlich auch
davon abhängig, mit welchen Bildern unser eigenes Gehirn arbeitet und
mit dem Werk verbindet. Auch im technischen Bereich werden einzelne
Teile in immer komplexeren Formen miteinander logisch verknüpft. Da
mich die stetige Weiterentwicklung dieser Systeme interessiert, habe
ich mich bei der Übersetzung dieses Interviews ins Englische zu einem
formalen Experiment entschlossen, um zu zeigen, wie weit diese zum
jetzigen Zeitpunkt in der Lage sind, unsere Sprache zu interpretieren.
Foto 1: "schroedis- katze" Objekt, Farbdose, Textil, Lichtsensor, elekt. Bauteile
Foto 2: Prof. Dr. Christian Schwanenberger/ DESY